Dabei ist zu bemerken, dass das biologische Geschlecht nicht eindeutig binär in männlich und weiblich definiert werden kann. Der Einfluss von Genen, Geschlechtschromosomen, Hormonen sowie inneren und äußeren Geschlechtsorganen verursacht insgesamt einen fließenden Übergang zwischen den beiden bekannten Geschlechtern, so dass das biologische Geschlecht nicht unbedingt eindeutig bestimmbar ist, beziehungsweise nicht immer mit der gefühlten und individuell erlebten Geschlechtsidentität übereinstimmen muss.
Ebenso wichtig ist es, das psychosoziale Geschlecht in diagnostische und Behandlungswege einzubeziehen. Das bedeutet, dass Geschlechterrolle, Kultur, familiärer Background, Ausbildung, Einkommen und soziale Unterstützung berücksichtigt werden müssen.
Eine eindeutige Trennung von Sex und Gender ist in der Medizin durch das Wechselspiel dieser Einflussfaktoren oft nicht möglich.
Die Gendermedizin hat ihre Wurzeln in der Frauenbewegung der 1960er-Jahre und entstand als eigene Disziplin in den 1990er- Jahren. Bis dahin wurden neue Medikamente, aber auch Diagnose- und Behandlungsmethoden ausschließlich an gesunden, jungen, normalgewichtigen Männern getestet. Da Alter, Gender und persönliche Lebensumstände eine differenzierte Sicht benötigen, wird Gender Medizin auch „precision medicine“ genannt. Man versucht, auf individuelle Gegebenheiten einzugehen, statt den männlichen Körper als allgemeingültige Norm anzunehmen.
Die WHO meint dazu: „Being a man or a woman has a significant impact on health.“ Eines der Ziele der WHO ist deshalb „gender equality“, also Chancengleichheit im Gesundheitsbereich.
Aufgrund der jahrhundertelangen Annahme, dass, was für Männer gilt, auch auf Frauen umzulegen ist, beschäftigte sich die Gendermedizin zuerst vornehmlich mit Frauenkörpern. Später bezog man das nicht-binäre Geschlechtsmodell in die Überlegungen und Forschungen ein. Aber auch Männer sind vom Gender Bias betroffen. Osteoporose galt zum Beispiel lang als Frauenkrankheit, genauso wie Depressionen. Dafür wurden lange Herzinfarkte bei Frauen gar nicht diagnostiziert, weil sie andere Symptome aufweisen als bei Männern. Von Gender Medizin bzw. precision medicine werden alle Menschen profitieren.